Studienbanner_klein Studien von Zeitfragen
36. Jahrgang InternetAusgabe 2002
SvZ Net 2002
Zeitfragen
Eurasien
Global
Weltfinanz
Weltmacht
Deutschland
Mnemeion
Suche / Archiv
Impressum
Bush`s Palestine
Ghetto Ramallah
Daniel nach Beirut
Palästina
Hilfloser Powell
Trennungsplan
Mahathir OIC
Resolution 687
Israel Elections

Palästina

 

Ghetto Ramallah

Von David Hartstein

  

 Von den siebziger bis an den Beginn der neunziger Jahre hat dieses Land Terror und Mord erlebt. Gleichwohl kann sich kaum jemand in Deutschland annähernd vorstellen, wie tief eine Glaubensgemeinschaft und ein Volk am Vorabend des höchsten Festes von dem Massaker getroffen worden sein muß, mit dem ein Selbstmordattentäter der Organisation Hamas Mittwoch abend Palästina an die Schwelle eines Religionskrieges gesprengt hat. Das jüdische Passahfest fällt obendrein dieses Jahr mit Ostern zusammen, Schändung, Entweihung und Entheiligung zweier Festzeiten hat dieser Attentäter also vervollständigt.

 Hierauf haben die Israel Defense Forces mit einem Zerstörungsangriff auf das Hauptquartier der Palästinensischen Autonomiebehörde geantwortet und haben es bereits dem Erdboden gleichgemacht - dabei Jassir Arafat zur Flucht in seinem eigenen „Regierungsgebäude“ treibend, während im selben Amtssitz der legitimen Palästinenserbehörde das Licht ausgegangen ist. Sharon: “Israel wird handeln, um die Infrastruktur des palästinensischen Terrorismus zu brechen, in all seinen Teilen und Komponenten, und wird umfassende Aktionen durchführen, um dieses Ziel zu erreichen.”

 Hat damit die letzte Offensive eines Feldzuges zur Vernichtung der Palästinensischen Befreiungsorganisation und ihrer institutionellen Fassade, der Palestinian National Authority, begonnen? Ein Endkampf gegen das Ghetto, in dem die Bewohner des besetzten Palästina seit ihrem gewaltsamen Aufbegehren gegen die Zumutungen von Camp David und Arik Sharon eingesperrt und von Siedlungen, bewachten Umgehungsstraßen und Kontrollstellen eingepfercht worden sind?

 Wer wollte, konnte seit Ende Januar wissen, welchen verwegenen und verbrecherischen Handbüchern die IDF Beispiele zu entnehmen bereit war. Unlängst hat die Frankfurter Allgemeine in einer kurzen Reminiszenz darauf hingewiesen:

Der „Haaretz“-Militärkorrespondent Amir Oren schilderte seine Gespräche mit israelischen Offizieren, bei denen ihm die Haare zu Berge gestanden haben müssen: Um die nächsten militärischen Operationen vorzubereiten, erklärten die Soldaten, sei es gerechtfertigt, ja entscheidend, von jedem nur möglichen Vorbild zu lernen. Wer etwa ein überfülltes Flüchtlingslager oder die Kasbah von Nablus einnehmen wolle, müsse nun einmal aus der Militärgeschichte lernen – auch, so skandalös es klinge, aus der Taktik der Deutschen bei der Niederschlagung des Warschauer Ghettos. Soweit „Haaretz“. (FAZ vom 27.03.2002)

 In Haaretz konnte man auch seither einiges zu den Maßnahmen lesen, mit denen das israelische Militär seit vielen Wochen diese Strategie der Niederschlagung eines Ghettos verfolgt. Wie aber läßt sich erklären, daß ein jüdischer Generalstab ausgerechnet bei Taktiken der SS Auskunftsmittel zu erhalten wähnt, um nicht nur den verzweifelten Widerstand der organisierten Palästinenserbewegung, sondern auch die Palästinenser selbst, Individuum für Individuum, niederzuwerfen?

 Zum Beispiel so: Anfang März hat ein keineswegs erfolg- und einflußloser Herausgeber eines Nachrichtendienstes im Internet, George Friedman von Strategic Forecast in Austin, Texas, in der Süddeutschen Zeitung den deutschen Leserinnen und Lesern eine sowohl stupide wie provozierende Antwort gegeben:

Die Wurzeln dieser Tragödie liegen in der Geographie. Der von Friedensstiftern und Vermittlern angestrebte Palästinenserstaat böte gar nicht genug Lebensraum für diese Nation. Er ist, erstens, räumlich zwischen dem Westjordanland und Gaza aufgesplittert – und jeder Zutritt wäre vom guten Willen Israels abhängig. Zweitens, was noch wichtiger ist, reichen die Ressourcen dieses palästinensischen Staates gar nicht aus, um eine gesunde, unabhängige Volkswirtschaft zu unterhalten. Die Palästinenser müßten also ihre permanente Abhängigkeit von zwei Feinden akzeptieren: von Israel oder vom haschemitischen Königreich Jordanien.

 

 Vergrößert

 Für ein Lesepublikum, das an das Gerede von „Lebensgrundlagen“ gewöhnt ist, läßt der Verfasser mit Bedacht einen Begriff einfließen, der zwar als „Unwort“ verpönt ist, oft aber von der semantischen Umwelt des hehren ökologischen Wortes nicht deutlich genug unterschieden wird: Lebensraum. Welche Konterbande schmuggelt der Verfasser, der mit der deutschen Muttersprache aufgewachsen und vertraut ist, hier in die Erklärung einer Tragödie ein, deren Unausweichlichkeit er in seinem Kommentar als evident festzustellen versucht?

Geschichte der Deutschen und der Lebensraum des Nationalsozialismus

 Am Passah-, am Osterfest kann es lehrreich sein, an die mörderische Zugkraft eines solchen Begriffes unter den Bedingungen einer wirtschaflichen und kulturellen Krise zu erinnern. Die Durchsetzung des mythischen Rechts auf Lebensraum (nach Hitler) für die Deutschen, keineswegs nur im Osten, konnte und wollte gerade auf das Leben, das individuelle wie das »volkliche«, keine Rücksicht nehmen, sondern mußte es, gleichsam vom Olymp des Utilitarismus aus, als Sache, als zu beseitigende und störende »Masse« behandeln. An den Deutschen selber hatte Hitlers Nazi-Regime bis zum Beginn des Krieges (wie keiner treffender und beklemmender als Sebastian Haffner in »Germany: Jekyll and Hyde« herausgearbeitet hat) dieses Verfahren hinreichend erprobt. Hitler und seine Unterführer

»... have treated Germany like a conquered land, a colony to be used and abused without consideration, to be exploited to the full, and its national spirit, happiness, and well-being to be sedulously ignored. The image that Rilke applied to the Bolsheviks and Russia exactly fits the Nazis and Germany: they have made a penwiper out of cambric. Indeed the cambric functions admirably as a penwiper. It does not long survive such usage. And no one will say that he who has made an efficient penwiper out of it has thus proved himself to be a lover and connoisseur of cambric.« (Germany: Jekyll and Hyde, E. P. Dutton, New York 1941)

 Der zweite Weltkrieg brachte Europa (mit allem, wofür das Abendland auf immer Gewähr zu bieten schien) unter Hitlers Stiefeln unter anderem deswegen so unendlich nahe an seine abyssos, weil dem Drang des Führers zur Durchsetzung seines Wahns vom germanischen Lebensraum von all denen, die am natürlichen Recht der menschlichen Gattung auf Leben aus Glauben, Überzeugung und auch nur aus dem Selbsterhaltungsstreben der menschlichen Kreatur festhielten, zu spät und zu wenig Widerstand entgegen gesetzt wurde.

 Rationalisiert durch die »Begründungen« der Geopolitik, der neuzeitlichen Doktrin vom Eigentumserwerb und -erhalt unter Staaten, die zu allem kraft ihres geographischen Ortes absolut gezwungen und daher absolut berechtigt gedacht werden, organisiert wie ein aufs Land verschlagenes Piratenunternehmen, mußte dieses nach Hitlers Wahn zugerüstete Regime um des Lebensraumes willen die Heiligkeit des Lebens aus seinem Weltbild und die, denen das Leben heilig war, aus dem wirklichen Raum, in dem sie lebten, entfernen. Nicht allein vertreiben, es ging um mehr: die Entfernung des Gedankens an die Gültigkeit des fünften Gebotes aus dem »Lebensraum« des Adolf Hitler:

Ich war nie der Meinung, daß etwa Chinesen oder Japaner rassisch minderwertig wären. Beide gehören alten Kulturen an, und ich gebe zu, daß ihre Tradition der unsrigen überlegen ist. [...] Ich glaube sogar, daß es mir um so leichter fallen wird, mich mit den Chinesen und den Japanern zu verständigen, je mehr sie auf ihrem Rassestolz beharren. / Unser nordisches Rassebewußtsein ist nur gegenüber der jüdischen Rasse aggressiv. Dabei reden wir von jüdischer Rasse nur aus sprachlicher Bequemlichkeit, denn im eigentlichen Sinne des Wortes und vom genetischen Standpunkt aus gibt es keine jüdische Rasse. Die Verhältnisse zwingen uns zu dieser Kennzeichnung einer rassisch und geistig zusammengehörigen Gruppe, zu der die Juden in aller Welt sich bekennen, ganz gleichgültig, welche Staatsangehörigkeit der Paß für den einzelnen ausweist. Diese Menschengruppe bezeichnen wir als die jüdische Rasse. [...] Die jüdische Rasse ist vor allem eine Gemeinschaft des Geistes. / Geistige Rasse ist härter und dauerhafterer Art als natürliche Rasse. Der Jude, wohin er auch geht, er bleibt ein Jude [...] und muß uns als ein trauriger Beweis für die Überlegenheit des ›Geistes‹ über das Fleisch erscheinen.« (Zitiert nach Trevor-Roper/Francois-Poncet 1981, 66/68/79 bzw Heinsohn 1994)

 Dem Umschlag von der »fröhlichen Wissenschaft« in die »traurige« Erkenntnis von der Überlegenheit des Geistes bei Hitler selbst konnte der tüchtige Wahn nur mit dem äußersten Willen zur Vernichtung beikommen - des Fleisches, nicht des Geistes. Hier setzte der Cäsarismus erneut zu seinem vorerst letzten Versuch an, den Glauben an den Willen des Schöpfers, daß alle seine menschlichen Geschöpfe gleich geboren und nach seinem Ebenbilde gleich zu behandeln seien, zu widerlegen und zu verhöhnen. Diesmal übertraf er all seine vorangegangen Verkörperungen um das Ungeheuerlichste.

 Und unterlag.

 In Manes Sperbers Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ beobachtet der Dr. Rubin, der die kleine jüdische Schar im hintersten Polen zum bewaffneten Widerstand gegen die Nazis aufgewiegelt und dafür auch den halbwüchsigen Sohn und Nachfolger des Rabbis für die Teilnahme an diesem Widerstand gewonnen hatte, diesen Jungen beim Sterben:

Bynie war in einem von tausendmal tausend Zäunen umhegten Glauben erzogen worden, der alles, selbst die unwichtigste Gebärde eines Kindes durchdrang. Frühzeitig erfuhr er, daß er zu einem hohen Amt berufen war, frühzeitig erkannten die anderen und er selbst, daß er ein »Lerner« war, wie sie es nannten, ein Schwamm, der alles gierig aufsog, und daß sein Hunger nach Wissen unersättlich und sein Durst nach Verstehen unstillbar waren. War all dies besonders, so war es doch nicht unbekannt. Unfaßbar blieb allein, so schien es Edi, die eigentümliche Verbundenheit mit dem All, in der dieser Junge so natürlich lebte, wie ein Baum im Erdreich wurzelt. Um so erstaunlicher, als Bynie, im Gegensatz zu seinem Vater, augenscheinlich nicht an ein Jenseits und nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, sondern es nur für möglich hielt, daß sich Gott am Ende der Tage entschließen könnte, ein zweite, endgültige Schöpfung zu wirken – die Wiederauferstehung. „Nicht durch seinen Leib und nicht durch seine Seele, sondern nur durch den Sinn seines Tuns geht der Mensch in die Ewigkeit ein. Dieser Sinn ist, wenn er der rechte ist, göttlich, ewig.“ All diese Worte waren leer für Edi, aber allmählich verlor er die Ungeduld, die sie zuerst in ihm erregten. Eben weil, was Bynie sagte, nicht wie die Äußerung einer Person oder einer Sekte wirkte, sondern wie der Ausdruck einer menschlichen Natur. Zu deren Widersprüchen mochte es gehören, daß der Junge Schmerzen fürchtete und nach seiner Mutter rief, wenn Dr. Tarlo den Verband zu schnell wegriß, und daß er das Sterben, nicht den Tod fürchtete. Er erklärte: „Weil der Tod leer ist, kann man ihn mißachten. Und deshalb ist auch das Töten eine Handlung ohne Sinn. Ich habe das so gut gemerkt bei dieser Schlacht im Wald und dann im Stollen. Ihr könnt es euch selbst beweisen, Dr. Rubin. Versucht einmal, eine Schlacht zu beschreiben, und ihr werdet merken, daß alle diese Taten zusammen so wenig bedeuten und so gestaltlos sind wie eine Träne im Ozean.“

 Mit der Taktik der Niederschlagung des Ghettos wird das Israel Sharons seinem eigenen Untergang entgegengehen, weil es genau den Lebensbehauptungswillen eines neu entstandenen Volkes auszulöschen versucht, dem es selbst seine Entstehung verdankt. Eine solche Beziehungsfalle hält auf die Dauer weder ein Individuum noch ein Volk noch ein Staat aus. Im Ebenbild des Gegners sein eigenes Spiegelbild entdecken und dabei immerfort gerade die Züge anblicken zu müssen, auf die sich eigene Eitelkeit und eigener Stolz gründen, hieße das besiegen zu wollen, was einen selber stark gemacht hat - und damit sein Selbst. Immer mehr Israelis werden das erkennen und beherzigen.

  Der amerikanischen Maklerdiplomatie erschließt sich diese Einsicht vermutlich nie. Der deutsche Außenminister kann nur noch mehr Falten auf seine Stirn zu pressen versuchen. Er erklärte, die Bundesregierung verfolge die „erneute höchstgefährliche Zuspitzung der Lage im Nahen Osten mit größter Besorgnis“. Die Konfliktparteien müßten den Einsatz von Gewalt beenden und die Verhandlungen über eine Waffenruhe fortsetzen. “Die Bundesregierung steht gemeinsam mit ihren europäischen Partnern in ständigem Kontakt mit den Konfliktparteien und den Partnern im Nahen Osten.”

  Mit solchen Verlautbarungen kommt man unter Diplomaten im eigenen Amt sicher und in der weltweiten Zunft vielleicht zurecht; Tacheles reden, reden können wäre eher gefragt.

 Es würde schon genügen, wenn einmal öffentlich an Ariel Sharon und seinen Generalstab die Frage gerichtet würde, warum nach dem Massaker, das von einem Attentäter der Hamas verübt worden ist, der jetzt begonnene militärische Großeinsatz, wenn er denn tatsächlich und wirksam gegen Infrastruktur und Stützpunkte des Terrors gerichtet sein soll, sich nicht die Quartiere von Hamas vornimmt. Es kann doch wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die israelischen Sicherheitsdienste über die Jahre hinweg jeden Quadratzoll des sichtbaren Aktionsraumes von Hamas vermessen haben. Und daher die IDF auch jederzeit in der Lage wären, gegen diese Quartiere so brutal, ziel- und punktgenau vorzugehen wie nun gegen den Amtssitz des “Feindes”, des Führers der palästinensischen Organisation. Wobei Sharon - seine gar nicht so geheimen Wünsche unterdrückend - dennoch nicht einmal die Gewähr bieten kann, daß Arafat nicht dasselbe Geschick erleidet wie Yitzhak Rabin, des einstigen Partners bei der Suche nach Frieden. Warum also, so lautet die einfache Frage, Vergeltung gegen die Palestine National Authority und nicht gegen Hamas, der man das Massaker von Netanya zurechnet? Wer auf diese Frage dem israelischen Oberbefehl eine Antwort entlocken könnte, der hätte sich um die Weltöffentlichkeit verdient gemacht.

 In Ha'aretz

 Force is not enough

 Rolling to where?

 Zwei Pole

 Thomas L. Friedman: Suicidal Lies

 Uri Avnery: The Murder of Arafat