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Deutschland

   

Geheimnis Deutschland

Von David Hartstein

 

Fragen an Deutschland

 Nun hat es es auch der amerikanische Präsident wissen wollen. In einem Bericht der New York Times vom 17.08., der sich mit der öffentlichen Stellungnahme des vormaligen Sicherheitsberaters Brent Scowcroft (im Wall Street Journal, „Don`t attack Saddam“, 15.08.), übrigens einem der maßgeblichen Befürworter der deutschen Vereinigung in der Regierung des älteren Bush, und des Widerhalls dieser Stellungnahmen im hypertonischen Umfeld des Weißen Hauses befaßt, wird vermerkt:

In Germany today, officials said that the United States had responded to statements by Chancellor Gerhard Schröder that Germany was not prepared to have any role in a war in Iraq by sending Ambassador Daniel R. Coats to express to the German government the administration‘s displeasure.

 Was der amerikanischen Administration mißfällt, ist die Ahnung der Tatsache, daß sie bei einem von ihr bis zur Obsession wichtig genommenen Vorhaben, das schon jetzt (unter anderm auch vom Sekretär Rumsfeld ) kühn verdrillt als „präventiver Akt der eigenen Selbstverteidigung“ umschrieben wird, den wichtigsten Verbündeten in Europa zu verlieren droht. Oder zugespitzt: Sich das selbst androht, weil sie genau die Erwägungen, die Scowcroft für unerläßlich hält, bislang beiseite geschoben hat. So ähnlich war es auch bei Bush Vater. Den mußte man auch erst eindringlich belehren, daß kein geopolitisches Klügeln der Lady Macbeth mit der Handtasche die Wahrnehmung aus der Welt schaffen konnte, daß sich die Deutschen (vor allem jenseits der Mauer und Grenze) frei vereinigen wollten - und daß genau dies die amerikanische Außenpolitik gegenüber dem geteilten Deutschland vierzig Jahre lang als ihren geschichtlichen Wunsch und Willen erklärt hatte.

 Manche offiziellen und nichtoffiziellen, mehr die zivilen als die militärischen Amtsträger äußern sich mitunter so, als wollten solche Verfechter militärischer Maßnahmen gegen Saddam Husseins Irak Stichworte einer Anklageschrift für den Internationalen Strafgerichtshof gegen sich selber (und nicht etwa die Befehle ausführenden amerikanischen Soldaten) vorformulieren.

Offenes Deutschland

 Henry Kissinger hat in einer seiner weit verbreiteten Kolumnen letzte Woche in der ihm gemäßen brutalen Offenheit für die amerikanische Regierung zu Papier gebracht, wohin ihre Obsession mit der Eliminierung der irakischen Staatsführung um jeden Preis führt - mit der Begehung und Bewertung verbrecherischer Kriegshandlungen kennt sich dieser unberufene Berater schließlich aus:

The new approach is revolutionary. Regime change as a goal for military intervention challenges the international system established by the 1648 Treaty of Westphalia, which, after the carnage of the religious wars, established the principle of nonintervention in the domestic affairs of other states. And the notion of justified preemption runs counter to modern international law, which sanctions the use of force in self-defense only against actual, not potential, threats.

 „Das Völkerrecht besteht aus revolutionären Ideen“, das hatte auch Robert Kempner festgestellt. Was Kissinger indessen beschreibt, ist der Umsturz, die Subversion jahrhundertelang bestehender gemeinsamer Grundsätze des Systems der Souveräne, die ja sogar im kriegswirren 20. Jahrhundert noch schärfer kodifiziert worden waren: Der Kellog-Briand-Pakt ächtet seit 1928 den Angriffskrieg und wurde in den Begründungen der Ankläger der Nürnberger Prozesse als Grundlage zur Fortschreibung in statuarisches Recht herangezogen. Die Charta der Vereinten Nationen hat dann tatsächlich dieses Gewohnheitsrecht zum statuarischen erhoben.

 Es waren die Urheber (die Görings, nicht die Soldaten) der Befehle zu Vorbereitung und Handlungen des Angriffskrieges, zu Kriegsverbrechen und zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Nürnberg vom internationalen Tribunal unter Anklage gestellt wurden. Es werden die Rumsfelds, die Wolfowitze und der amerikanische Präsident selber sein, die sich fragen müssen, ob sie die für den Internationalen Strafgerichtshof maßgeblich von amerikanischen Juristen erarbeiteten Richtlinien und Verfahren und amerikanisches wie internationales Recht mit hoffärtiger Verwegenheit herausfordern und umstürzen wollen. Soll die begonnene Unterhöhlung des Posse Comitatus Act sich bis nach Westasien erstrecken? So weit man schauen kann, ist die amerikanische Nation als verfaßte Union keine globale Entität. Und somit kann die Verteidigung der nationalen Sicherheit und Souveränität weder globale noch präventive Reichweite haben. Nicht einmal während des kalten Krieges hat die amerikanische Kriegführung und -propaganda dies beansprucht. Die Reichweite des Rechts zur Verteidigung der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten endet an den Küsten- und Luftraumgrenzen des Territoriums der USA, mögen die Sensorien zur Sicherung auch aufs Planmäßigste im Orbit der Erde angeordnet sein. Und ein Verbündeter, der wie 1990 Kuweit gegen einen Besatzer oder wie Saudi-Arabien gegen einen möglichen Aggressor nach den Statuten der Vereinten Nationen zu verteidigen wäre, läßt sich augenscheinlich im Moment nicht finden.

 Man muß es deutlich aussprechen: Es geht hier nicht um amerikanischen „Unilateralismus“. Es geht darum, daß die irakische Obsession, die sich vom überwiegend zivilen „defense establishment“ bis ins Weiße Haus hineingefressen hat, die USA gegen ihre eigene Verfassung zum Verlassen des völkerrechtlichen Bodens des Systems der Vereinten Nationen treibt und damit endgültig ein beinahe zwei Jahrhunderte lang geltendes Axiom von John Quincy Adams durch ein auch gegen die Grundsätze der amerikanischen Revolution gerichtetes konterrevolutionäres Unternehmen preisgegeben würde:

»Wherever the standard of freedom and Independence has been or shall be unfurled, ... there will be her heart, her benedictions and her prayers be.

But she goes not abroad, in search of monsters to destroy. She is the well-wisher to the freedom and independence of all. She is the champion and vindicator only of her own. She well knows that by once enlisting under other banners than her own, were they even the banners of foreign independence, she would involve herself beyond the powers of extrication, in all the wars of interest and intrigue, of individual avarice, envy, and ambition, which assume the colors and usurp the standard of freedom.«

 Weder von der deutschen Presse noch von der deutschen diplomatischen Körperschaft kann man erwarten, daß sie dem amerikanischen Freund verdeutlicht, daß dies nicht der „deutsche Weg“ sein kann. Kein anderes aus dem zweiten Weltkrieg hervorgegangenes europäisches Gemeinwesen hat eben die Grundsätze des Kellog-Briand-Paktes so tiefreichend in sein Verfassungsrecht und seine legitimen politischen Verfahren eingesenkt wie die Bundesrepublik Deutschland. Darum schwebt auch Sir Henry Kissingers schale Alternative völlig im virtuellen Niemandsland der Realpolitik, weil er vielleicht von Völkerrecht noch halbwegs kundig und verständig reden kann, von Staats- und Verfassungsrecht dagegen keinen Schimmer hat:

At that point, too, America‘s allies will be obliged to face the choice they have thus far evaded: between their domestic opposition or estrangement from the United States. Dissociation from U.S. actions will not save the allies from the consequences of abdication in a world of terrorism and weapons of mass destruction and distancing themselves from an ally of half a century.

 Im übrigen ist in Deutschland durchaus bekannt, welche Staaten zur Zeit gewiß über „strategisch“, also mit weitreichenden Raketen einsetzbare atomare Massenvernichtungswaffen verfügen. Man kann sie noch an zwei Händen abzählen: USA, GUS, Frankreich, VK, VR China und Israel. Indien und Pakistan sind so weit noch nicht. Von diesem globalen Sachverhalt kann sich selbstredend kein Staat, der auf Nuklearwaffen verzichtet hat, dispensieren.

 Den Primat der Politik der Staaten nach außen, den Kissinger einer seiner Lehrmeister aus den Zeiten des Bismarckismus-Wilhelminismus, Fritz Krämer, eingetrichtert hat, würde auch ihm ein Umsturz des aus dem Westfälischen Frieden hervorgegangenen Systems als sein Lieblingsspielzeug wegnehmen. Wenn eine amerikanische Regierung begänne, Verhältnisse in Westasien als Gegenstand innerer Angelegenheiten der „nationalen Sicherheit“ zu behandeln, würde auch niemand mehr den Rat des allzeit bereiten Beraters benötigen. Für die Streitgegenstände der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg besitzt Sir Henry wenig Kompetenz.

 Der vom vereinigten republikanischen Deutschland mit den Siegerstaaten des zweiten Weltkrieges geschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag ist dagegen aber Recht nach außen durch Rechtssetzung nach innen: Eine Rechtsordnung im Innern, die das Verhalten zum Außen bindet. Das ist ein bißchen mehr als bloße Opposition; dieses Recht geht hervor aus dem Grundgesetz und regelt Taten und Verpflichtungen des Bundes (der Deutschen in der BR Deutschland) auf der unvergänglichen Grundlage des Artikels 20, 4 des Grundgesetzes.

 Der amerikanische Botschafter wird nach der Überbringung des Mißfallens seiner Administration an die offiziellen Adressen in Berlin nicht wesentlich erleuchteter nach Hause berichtet haben können, was wohl der Kanzler Schröder und seine sozialdemokratische Partei im Wahlkampf mit dem „deutschen Weg“ bezeichnen oder vorzeichnen wollten. Soweit bekannt, läßt sich aus dieser Begriffsprägung zunächst auch nur herausdeuten, was der „deutsche Weg“ nicht sein soll. Noch schneller und zeitgeschichtlich besserwisserisch war die hegemoniale öffentliche Meinung auf Papier und Fernsehschirm in Deutschland zur Stelle mit der Gewißheit, daß es „deutsche Wege“ eigentlich gar nicht geben dürfe; - das seien sowieso immer nur Sonderwege der Deutschen in die Irre gewesen. Doch bei den kognitiven Selbstverständlichkeiten der Realpolitik müsse es schon bleiben: Eine deutsche Entscheidung sei nur auf dem Wege der Abstimmung in der Europäischen Union zulässig. Eine individuelle Entscheidung eines Verantwortung fürs Ganze tragenden Deutschen (des Bundeskanzlers) oder der Deutschen in ihrer Mehrheit gegen einen Krieg muß die gewerbliche Intelligenz in ihrer überwiegenden Mehrheit erst noch als Möglichkeit ins Auge fassen. Erzogen hat sie sich und ihre Leser dazu nicht.

  

Geheimes Deutschland

Auf einem scheinbar gänzlich anderen Beritt, nämlich im transatlantischen Diskurs unter den Exegeten und Geschichtsschreibern von Dichtung und Geistesgeschichte hat ein verhältnismäßig junger Reitersmann unter den amerikanischen Germanisten in diesem Jahr in einem grandiosen und voluminösen Buch über Stefan George und seinen Kreis versucht, sowohl das Geheimnis Deutschland als auch das geheime Deutschland (nämlich des George-Kreises) zu ergründen. Seinen Ermittlungsauftrag gibt er in einer knappen, das detektivische Erkenntnisinteresse leitenden Hypothese so kund:

„... it is impossible to grasp fully what unfolded in Germany and the rest of Europe before and after 1933 without coming to terms with Stefan George and his circle. ... My ultimate aim in writing this book is to show that the political effect of George`s life and work – clearly recognized by his contemporaries, and denied or downplayed by his subsequent defenders – was pervasive, profound, and of extraordinary significance.“

 Es handelt sich also um nichts weniger als die Frage, welcher Kraft man die Verursachung des absonderlichen deutschen Wegs mit Hitler zusprechen kann oder muß. Eine erdrückend reichhaltige Biographie ist Robert Norton dabei gelungen, eine „mental history“ dagegen schon weniger. Für jeden Nachgeborenen, ob deutscher oder englischer Muttersprache, ist es auch schier unmöglich, mehrere Jahrzehnte des Wirkens von Dichtung, und eines Dichterfreundeskreises, auf den deutschen Geist im kollabierenden Bismarckismus-Wilhelminismus und seines Zerfallsergebnisses, der Weimarer Republik, und schließlich in der über diese obsiegenden Selbst-Verstümmelung mit und unter Hitler, nachzuerleben oder zu er-innern.

 Unter anderm auch darauf verweist die Besprechung des Rezensenten der Süddeutschen Zeitung , der sich so früh und so rasch (bis zum 11. Juni) der verdienstvollen Arbeit gewidmet hat, ein Buch durchzuarbeiten, für das der Verfasser Robert Norton alle Zeit zusammengenommen mindestens fünf Jahre gebraucht und das er auf lediglich 847 Seiten verdichtet hat.

 Der Achtung, die Ulrich Raulff für die Pionierarbeit Nortons ausspricht, kann sich jeder Leser (- auch wenn er nicht alle 847 Seiten schaffen sollte -) nur anschließen, zu einem großen Teil auch seinen Urteilen über das Mißlingen dieser Monumentalarbeit, die auf all diesen vielen Seiten leider nicht viel mehr zustandebringt als eine „fallacy of composition“; vor allem immer dann, wenn es ihm darum geht, wie der Geist die Tat zeuge. Und dabei berichtet und deutet, als wäre dies ein Verhältnis von Ursache und Wirkung oder von Vorsatz und Ausführung. Es ist aber, wenn sich das überhaupt beschreiben läßt, eines, das zumindest Intra- und Intersubjektivität voraussetzt: nachbildenden Austausch. Wo hätte es aber einen solchen echten Austausch zwischen dem Dichterfreundeskreis um George und dem Kriegs- und Politikgetöse extra muros je gegeben?

 Ohne es zu richtig zu bemerken, schwankt Norton beständig zwischen Kriminalistik (der Aufspürung des Verantwortlichen und der Zurechnung von Verantwortlichkeit) und der Erforschung und Nacherzählung des Zusammenfalls von Geistes- und Sprachgeschichte mit Gruppen- und Freundesgeschichte in einem besonderen Fall. Oft, vor allem in den abschließenden und vorschnell schlußfolgernden Kapiteln „Revolution II“ und im Epilog, muß er gerade deswegen sein „Ermittlungsziel“ verfehlen, weil er nicht als ein „amerikanischer Idealist“ (wie ihm der Rezensent bescheinigen möchte), sondern als Pragmatist, als „spekulativer Empirist“ gearbeitet hat, dem Indizien bereits genügen, um auf einen Wirkungs-, Verlaufs- und Tatenzusammenhang zu setzen. Mit den Worten von Raulff:

Weil Norton George als den Johannes des falschen Erlösers A. H. porträtieren will, als Proto-Führer jenes eigentlichen „Führers“, deshalb muss er ihn zu einer überragenden politischen Größe seiner Zeit ernennen. Auch wenn er dafür jeden empirischen Beweis schuldig bleiben muss. Der wäre auch kaum zu erbringen: Allen für einen Lyriker erstaunlichen Auflagenzahlen und akademischen Erfolgen seines Kreises zum Trotz ist die Rezeption Georges immer eine eng begrenzte Sache von Bildungseliten geblieben. Selbst die intellektuelle Straße beherrschten andere Akteure. Die Nachwelt sieht immer nur die Sträußchen, die sich die Nazis an den Hut steckten und sucht den Bock unter den Gärtnern.

 Nicht daß Norton vor solchen Irrwegen der Interpretation nicht gewarnt gewesen wäre. Er schreibt selbst in seinem Vorwort:

Edgar Salin, one of his followers and a devoted chronicler of his life, once straight-facedly and symptomatically insisted that the most appropriate form of writing about George would „attempt to portray him as the perfect sage“ because „he traversed all stages of knowledge und unified them within himself“.

 Vorwaltend gegenüber einem Austausch (mit einem Weisen) war doch wohl außerhalb des engen Kreises, schon im Kreis der Leser „draußen“ beginnend, eine Vorstellung von Fremdheit und Unheimlichkeit; gleichzeitig und verhalten aber auch eine der Anziehung und Begeisterung. Gerade bei Salin findet sich in „Um Stefan George“ (1948) eine bezeichende Beobachtung Georges und eine Selbstbeobachtung Salins dazu:

Aber vielleicht ist bezeichnender und bedeutungsvoller jenes uralte, neu aufbrechende Gefühl der Fremdheit gewesen, das die Völker Europens vor den unergründlichen und den himmelstürmenden Deutschen immer zurückschrecken und hinwiederum die besten Deutschen sich in Kyffhäuser, Geheimrätlichkeit oder Wahnsinn verschließen ließ und das diesmal zur höchsten Stufe der Einsamkeit im Schein der allgemeinen Anerkennung führte, – vielleicht ist es Wirkung und Schuld dieser Fremdheit gewesen, wenn der deutsche Rufer eines adligen Menschtums, der im Namen seines Gottes die weibischen Tänzer ums goldene Kalb brandmarkte und verdammte und eine neue Jugend zu klarem, gläubigem und mannhaftem Leben führte, nun in Welt und Widerwelt als gefährlichster Vertreter des gefährlichen Deutschtums beargwöhnt wurde.

Als der Berichter im Frühjähr 1919 nach seinem Schweizer Aufenthalt solche Gedanken äußerte (25. April 1919), fragte George zuerst nach den Erfahrungen, die dieser Einsicht zu Grunde lägen. Die Schilderung, wie auf der Deutschen Gesandtschaft der „Georgianer“ als verdächtiger Revolutionär betrachtet, von den Schweizern der junge Referent ob seiner geistigen Unabhängigkeit als besonders gefährliche Spezies der Deutschen angesehen wurde, und die Erzählung mancher Gespräche über die Dichtung erweckten zuerst Georges Heiterkeit. Aber als der Besucher unentwegt mit seinem Bericht fortfuhr und die Torheit der hochmögenden und der gelehrten Herren recht drastisch zu zeichnen dachte und eine zustimmende Äußerung des Meisters erwartete, kam plötzlich die kurze Zwischenfrage: „Ist es bloß Torheit?“

 Selbst für einen unbedarften deutschen Leser, der die Höhen des Idealismus erklommen zu haben nicht Anspruch machen darf, könnte sich hier andeuten, daß in der ganzen investigativen Arbeit Nortons irgendetwas nicht stimmen kann. Er weist die Voraussetzung Salins durchaus nicht zurück. Es scheint aber, als könne er es partout nicht über sich bringen, sich mit einem Dichter und Weisen zu beschäftigen und sich allein im Reich der klaren und wahrhaftigen Gedanken zurechtzufinden. Ein politisierender Dichtertyrann ist ihm als Gegenstand passender, weil er sich da mit den geistigen Voraussetzungen der Moderne und ihrer Selbstkritik in Europa wie in Amerika nicht auseinandersetzen muß. Obgleich er sich auf so vielen Seiten mit Dichtung und der Wirkung eines Dichters befaßt, kommt in seinem Register zum Beispiel nicht einmal der Name Ezra Pound vor.

 Was hier nicht zusammenpaßt bei den Ergebnissen der Ermittlungsarbeit, faßt der Rezensent der SZ einmal so zusammen:

Wie jeder Ankläger, der einen Prozeß wegen geistiger Wegbereitung anstrengt, muß Norton erklären, auf welche Weise aus Spruch und Sang am Ende Tat und Totschlag wurden.

 Und das vermag der Biograph nicht, weil er trotz (oder wegen?) der vielen deutschen Helfer in den Archiven weder sich auf das „Geheimnis Deutschland“ noch das geheime Deutschland einlassen will oder kann. Verdenken kann man ihm das nicht, denn in der Sprache dieses Landes (und für dieses Land) ist auch schon vor George so manches erdacht, erfunden und gesungen worden, was spätere Generationen nie zureichend sich anverwandeln konnten. Eine gründliche Vorgehensweise kann man Norton dann aber auch nicht bescheinigen. Mit noch einem Zitat des SZ-Rezensenten kommt man vielleicht der Nervosität näher, mit der Norton (von vielen Stiftungen gefördert und beschenkt) auf ein Ergebnis hingearbeitet hat, das Licht und Schuld zugleich in die Sache Hitler-Deutschland bringen soll:

Wann immer Robert Norton das Wort „Führer“ hört, beginnt er zu vibrieren. Er weiß sich dann ganz dicht an dem Gefäß, in dem nach alchemistischer Weise Poesie in Politik umschlägt. Was er nicht weiß oder wissen will, ist, dass der Erfolg der Nazis auch darin bestand, geläufiges Vokabular aufzugreifen und zu singularisieren – vor allem aber darin, sich selbst als Erfüllung aller Prophetien hinzustellen. Wer dafür allein den Propheten haftbar macht, folgt einer Nazi-Interpretation.

 Wie Norton, wenngleich in anderer Zeit und in anderen Lebensumständen, muß es einst dem nicht sehr bemittelten Studenten Joseph Goebbels in Heidelberg gegangen sein, wann immer er das Wort vom „Führer“ (gemünzt auf Stefan George) vernahm. In einer älteren Biographie über den Marketingstrategen des Führerkultes um Hitler (von Heinrich Fraenkel und Roger Manvell aus dem Jahre 1960) gibt es dazu eine aufschlußreiche Fundstelle, die wenigstens auf den Hauch eines Austausches zwischen einem Vertreter des „geheimen Deutschland“ und einem, der später ein Nazi-Führer wurde, einen Fingerzeig gibt:

Im Jahre 1920 ging Goebbels nach Heidelberg, wo er im folgenden Jahr promovierte. Dort geriet er unter den Einfluß von Friedrich Gundolf, seinerzeit der berühmteste Literaturhistoriker und Autor einer bis heute als unerreicht geltenden Goethe-Biographie. Gundolf hieß eigentlich Gundelfinger und war gebürtiger Jude. Er war einer der bedeutendsten Akademiker seiner Zeit, eine glanzvolle Persönlichkeit, deren Wirkung sich auch ein junger Literaturstudent nicht entziehen konnte. Auf Friedrich Gundolf ruhte der Abglanz von Stefan George, denn in der Gemeinschaft des „Stefan-George-Kreises“ rangierte er gleich nach dem Dichter selbst. Ein Student, der den Vorzug hatte, in des Professors Seminar zu arbeiten, durfte sich getrost einbilden, am Urquell der dichterischen Hochkultur und der literarischen Elite zu sitzen. Kein Zweifel, daß der junge Goebbels sehr stolz darauf war, im Seminar des berühmten jüdischen Professors zu sein.

Er war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt und hatte sich fast gänzlich der Kunst- und Literaturgeschichte zugewandt. Als er um ein Thema für seine Doktorarbeit nachsuchte, gab ihm Gundolf auf, über Wilhelm von Schütz zu arbeiten, einen wenig bekannten Dramatiker der Romantischen Schule aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der cand. phil. Goebbels gab seiner Dissertation den Untertitel „Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas“. Der Minister Goebbels hat sich dann die Dissertation aus dem Universitätsarchiv holen lassen und ihr einen neuen Untertitel gegeben: „Die geistigen und politischen Hintergründe der frühen Romantiker“. Für einen Reichsminister gehörte es sich, schon während der Studienzeit politische Interessen gehabt zu haben. In Wirklichkeit kam die Politik erst viele Jahre später.

 Goebbels, der, wie Norton (S. 734f.) auch berichtet, dann nicht bei Gundolf promovierte, weil jener von der Verpflichtung, Doktorarbeiten zu betreuen, entbunden worden war, sondern bei dem Germanisten Max von Waldberg, wollte seine Partei- und Zeitgenossen das später nicht mehr wissen lassen: Max von Waldberg war einer der von der Universität Heidelberg vertriebenen jüdischen Professoren.

 Norton referiert dieses biographische Detail, das als Anekdote, und wäre sie auch nur erfunden, allein schon mannigfache Interpretationen eröffnet, erst spät, in dem Kapitel, wo er endlich gleichsam staatsanwaltlich vorgeht. Den 65sten Geburtstag Georges (auch dessen Todesjahr) hatte der Reichsminister für Kultur und Propaganda zum Anlaß eines Glückwunschbriefes genommen, in dem er den Meister des Wortes und guten Deutschen pries. Damit, erst an dieser Stelle seines Buches, einen Faden der Verbindung zu streifen, ihn dann aber nicht unter der Lupe zu prüfen, hat er sich nach so vielen Seiten um die einzige Gelegenheit gebracht, nach seinen eigenen Methoden der Ermittlung „geistiger Wegbereitung“ herauszufinden, was vielleicht durch vielerlei Windungen, Prägungen und Vermittlungen von George ausgehend etwa in Goebbels zur Wirkung oder zum Ausbruch hat gekommen sein können.

  An der Karriere des verführten Verführers Goebbels seit Mitte der 20er Jahre (und auch nur dort in einem einzelnen Fall!) ließe sich ergründen, wie aus dem Nachhall des geistigen Gemeinwesens des George-Kreises im Gemüt eines Literaturstudenten die Wüstenei und Einöde einer sadistischen Technokratie des geistigen Lebens und der Sprachverwaltung in Deutschland werden konnte, zu deren Lenker der Dr. phil Goebbels sich emporgepöbelt hatte. Aber das wäre ein Fall Goebbels – mit George hat es nichts zu tun. – Indessen hätte der Biograph Stoff genug zum Vergleichen an den „intellektuellen“ Karrieren amerikanischer Neokonservativer im Großraum New York.

 Ansonsten läßt sich aber mit einiger Gewißheit sagen, daß es keine auch nur feinst-dünnste Verbindung zwischen der Führung durch einen Weisen im Freundeskreis des Dichters George und dem Führer der unheiligen 12 Jahre gegeben hat, hat geben können. Wäre Norton in der Lage gewesen, Georges wörtliche Übermittlung (durch Mittelsmänner) an die „Neu“-Organisatoren der „Akademie“ 1933 zu verstehen, daß nämlich die Gesetze des Reichs des Geistes und der Politik verschieden seien (S. 728f), hätte er wahrscheinlich am Ertrag all seiner Bemühungen für das Buch verzweifeln müssen. Dabei hat George es doch auch Norton, nicht nur den Mittelsmännern der Regierung Hitler, die seine Verlautbarung in vollem Wortlaut nicht zu veröffentlichten wagten, so genau wie möglich erklärt:

„... The fiction of my standing to one side has accompanied me all my life – only the untrained eye sees it so. The laws of the spiritual and the political realms are certainly very different – where they meet and where spirit descends to be common knowledge, that is an extremely complicated process. I cannot tell the gentlemen of the government what they should think about my work and how they estimate its importance for themselves.“

 Was George hier uneingegrenzt und unverdinglicht stehen läßt und als „kompliziert“ bezeichnet, wähnt Norton mit Reduktion von Komplexität durch Verfahren erledigen zu können. Leider geht das nicht so einfach. Da man die riesenhafte Arbeit Nortons und den dabei zustandegekommenen empirischen Ertrag weder verwerfen noch missen möchte, könnte man geneigt sein ihm zu raten, zumindest sein Nach- oder Vorwort noch einmal zu überdenken. Denn wenn es zutrifft, daß, wie Raulff behauptet, Robert Norton „ein Opfer der Nemesis des nachträglich geschriebenen Vorworts geworden“ ist, dann macht es auch weiter keinen großen Unterschied, ein neues Vorwort zu einem Buch zu schreiben, daß trotz seiner Fehlermittlungen durch seinen Gegenstand Reich reich bleibt.

  Für die Leser der deutschen Sprache mag in der Zwischenzeit eine andere Darstellung des „George-Kreises“ die beste Entschädigung sein, mit der sie sich sowohl dem „geheimen Deutschland“ als auch vielleicht dem „Geheimnis Deutschland“ nähern können: Edgar Salins Schrift aus dem Jahre 1948 „Um Stefan George“. Deren Teil „Winke und Lehren“ wird man hier bald lesen können.