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Presse- und Informationsamt der Bundesregierung - Bundesregierung online - Nachrichten über die Arbeit und Politik der Bundesregierung / Artikel Veröffentlicht am 7. Juni 2002 12:25 Uhr

 

Bundeskanzler Schröder: Das Zeitalter der Chancen - Sicherheit, Modernisierung und Gerechtigkeit in der Globalisierung

 

 Es hätte nicht erst der barbarischen Terroranschläge des 11. September 2001 bedurft, um uns vor Augen zu führen, daß die Welt sich in einer entscheidenden Phase globaler Auseinandersetzungen befindet. Man könnte sagen, wir erlebten nichts weniger als einen »Kampf um die Seele des 21. Jahrhunderts«.

 In dieser Auseinandersetzung werden Werte wie Chancengerechtigkeit und Teilhabe von den Kräften des Rückzugs auf fundamentalistische Ideologien und auf nationale oder kulturelle Ausschließlichkeit in Frage gestellt. Der Wunsch nach globaler Sicherheit durch eine gemeinsame »Weltinnenpolitik« ist gerade nach den Terroranschlägen verständlich, aber mehr denn je von gewaltigen Gefahren bedroht: Ausbreitung von Regionalkonflikten, Terrorismus oder die globalen Risiken durch Epidemien und Umweltkatastrophen. Die geradezu revolutionäre Modernisierung der Märkte, der Infrastrukturen sowie der Informations- und Kommunikationstechniken hat der Welt völlig neue Möglichkeiten eröffnet und mehr Menschen aus der Armut herausgeführt als je zuvor in der Geschichte. Aber sie hat die vorhandenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Differenzen nicht eingeebnet oder versöhnt; schlimmer noch: diese Entwicklung hat jene todbringende Verbindung von moderner Technik mit altem Haß, die sich der globale Terrorismus zunutze macht, erst ermöglicht. »Der 11. September war die dunkle Kehrseite unseres neuen Zeitalters der Interdependenz«, hat der frühere US-Präsident Bill Clinton treffend formuliert.

 Schließlich: Ungleiche Handelsbeziehungen, unkontrollierte Finanzmärkte und eine ungerechte Verteilung der Wirtschafts- und Entwicklungschancen haben die Gräben zwischen denen, die reich geworden, und denen, die arm geblieben sind, noch vertieft. Der Anteil des ärmsten Fünftels an der Weltbevölkerung am Welteinkommen ist in den letzten zehn Jahren des vergangenen Jahrtausends von bereits mageren 2,3 Prozent noch einmal auf 1,4 Prozent geschrumpft. Noch immer lebt fast die Hälfte der Menschheit von weniger als zwei Euro am Tag, und fast ein Viertel der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Hunderte Millionen Kinder auf der Welt haben nicht die Chance, eine Schule zu besuchen.

 Ungleichheiten diesen Ausmaßes provozieren das Gerechtigkeitsempfinden jedes anständigen Menschen. Zugleich erleben auch die Bewohner der entwickelten Industriegesellschaften, wie die Globalisierung unser Alltagsleben verändert: Wenn die Produktion von Gütern »digital«, das heißt: durch weltweiten Datenverkehr bestimmt wird; wenn »Global Players« für ihre Aktivitäten weltweit nur noch nach dem günstigsten Standort suchen; wenn die Zyklen von Innovation der Technik und Erneuerung des Wissens im globalen Wettbewerb immer kürzer werden - dann hat das auch dramatische Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebenswelt jedes einzelnen. Und damit ist noch nichts gesagt über die Veränderung unserer Alltagskultur durch das weltweite Angebot der immer gleichen Konsumgüter: von der Baseballkappe über den Hamburger bis zum folkloristischen Inka-Schmuck.

 Viele Menschen erleben die Globalisierung als einen Faktor, der Unsicherheit in ihr Leben bringt und Unruhe in ihr Gewissen. Ist die Globalisierung nur eine Art »Naturgewalt«, die über uns hinwegfegt und auf die wir keinen Einfluß nehmen können? Haben die, vorwiegend jungen Leute denn so unrecht, die auf die Straße gehen und die Auswirkungen der Globalisierung auf die Chancen der Menschheit, auf das gesellschaftliche Zusammenleben, auf die Entwicklung von einzelnen Ländern und ganzen Kontinenten, auf das globale ökologische Gleichgewicht und auf die Qualität von Demokratie kritisieren?

 Wir würden es uns wohl zu leicht machen, wenn wir diese Kritiker als neuzeitliche »Maschinenstürmer« abtäten, die sich dem unaufhaltsamen gesellschaftlichen Fortschritt entgegenstemmen.

 Wohlgemerkt: Ich denke hier nicht an die Gewalttäter, die nur nach Anlässen für blindwütige Randale suchen. Seattle, Göteborg oder Genua schließlich waren keine Verschwörungstreffen des internationalen Kapitals, sondern Versuche, auf internationalen Konferenzen Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten des Globalisierungsprozesses abzustimmen. Und ich finde auch die Proteste jener weltbekannten Organisation etwas seltsam und wenig überzeugend, die einen französischen Landwirt zum Anführer hat, dessen Mut zwar dazu hinreicht, mit seinem Traktor eine McDonald‘s-Filiale niederzureißen - der aber noch kein Wort gegen die auch für ihn profitablen Agrarsubventionen gewagt hat, die viele Entwicklungsländer am überlebensnotwendigen Zugang zu den Weltmärkten hindern.

 Aber die vielen Aktiven zum Beispiel aus kirchlichen Gruppen oder Dritte-Welt-Initiativen, die eine unkontrollierte Herrschaft der internationalen Finanzmärkte und Großkonzerne befürchten und für globale Gerechtigkeit und Solidarität eintreten - das sind ja keineswegs irgendwelche Spinner. Sie beklagen das, was der Autor Peter Schneider einmal die »Weltraumkälte der Globalisierung« genannt hat. Gleichviel, ob ihr Protest moralisch, religiös, ökologisch oder wirtschaftlich motiviert ist: Sie wissen in aller Regel sehr genau, daß die Globalisierung nicht rückgängig gemacht werden kann.

 Mit ihrer Kritik an ungleichen Handelsbeziehungen oder Finanzspekulationen, die ganze Volkswirtschaften an den Rand des Ruins bringen, sind sie im übrigen in guter Gesellschaft: Michael Moore, der Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO, hat des öfteren in aller Öffentlichkeit gesagt, er selbst teile bis zu 80 Prozent der Argumente jener Kritiker.

 Die Mahnung dieser Kritiker zielt darauf ab, daß jede wirtschaftliche Entwicklung - und gerade, wenn sie in großen Dimensionen stattfindet - einen sozialen Sinn bekommen muß. Dieser Anforderung muß sich die Politik, und um so mehr: eine sozialdemokratische Politik der Zukunftsgestaltung, stellen.

 II.

 Moderne Sozialdemokraten überall in Europa haben die Herausforderung durch die Globalisierung angenommen. Und zwar schon zu einem Zeitpunkt, als die Konservativen noch glaubten, auch diese revolutionären Neuerungen der Weltwirtschaft »aussitzen« oder dem »freien Spiel der Marktkräfte« überlassen zu können - während für andere die Modernisierung der globalen Wirtschaftsbeziehungen nichts als ein »Mythos« war.

 Mir und anderen ging es nicht nur darum, eine Entwicklung zu akzeptieren, die schlicht unvermeidlich ist. Ich habe immer auch die großartigen Chancen gesehen, welche die Globalisierung von Wirtschaft und Kommunikation den Menschen in aller Welt eröffnet. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat zu Recht beschrieben, wie nützlich und chancenreich der Prozeß der Globalisierung ist. Doch er fordert, mit demselben Recht, andere Formen der Umsetzung; das heißt: eine andere, bessere politische Gestaltung der Globalisierung.

 Sicher ist: die Globalisierung ist mehr als eine bloße Fortschreibung der Handelsbeziehungen, wie es sie in der Weltwirtschaft mit mehr oder minder tiefgreifenden Unterbrechungen seit dem 17. Jahrhundert gegeben hat. In den vergangenen zwanzig Jahren hat ein Prozeß begonnen, der unsere Art des Wirtschaftens, des Handelns und der Vermittlung von Wissen und Information grundlegend verändert hat.

 Ein junger Mann, der heute in Chemnitz aufwächst, kann sich mit Hilfe der internationalen Daten- und Informationsströme ebenso mühelos in die globale Ökonomie einbringen wie eine junge Frau aus Schanghai - die er womöglich in einem Internet-Chatroom kennenlernt und, auch das soll es schon gegeben haben, schließlich heiratet. Einzige, aber wesentliche Voraussetzung: Die Beteiligten müssen qualifiziert sein für diesen neuen internationalen Austausch - und zwar nicht nur im herkömmlichen Sinn (Kulturtechniken, Fremdsprachenkenntnis etc.), sondern auch im Sinne einer Weltoffenheit, wie sie, zumal in Deutschland, erst in den vergangenen Jahrzehnten entstanden ist.

 Deshalb sind der Zugang zu bestehendem Wissen, die Verbreitung von bekanntem Wissen und die Entwicklung von neuem Wissen von zentraler Bedeutung, um an den Reichtums- und Wohlstandseffekten der Globalisierung teilzuhaben. Die globale Gesellschaft wird nur als globale Wissensgesellschaft existieren können, wenn sie den Rückfall in Verteilungskämpfe, Ideologie und Gewalt verhindern will.

 Denn anders, als die Ideen der Aufklärung oder auch die Szenarien totalitärer Weltherrschaft (Orwells 1984) es scheinbar vorgegeben hatten, entwickelt sich die Welt der Globalisierung von sich aus weder linearvernünftig noch geplantschrecklich. Unkontrollierte Globalisierung ist im bösen Sinne anarchisch, und, wie Firmenpleiten großer Unternehmen, die eben noch auf der internationalen Bühne mit Milliarden jonglierten - Enron oder auch Kirch -, uns zeigen, im Zweifelsfall zerstörerisch für Menschen, Arbeitsplätze und Märkte.

 Man sieht an diesen Fällen aber auch, wo Politik versagt hat: Gerade im Augenblick ihrer scheinbar größten Ohnmacht - bedenkt man die gewaltigen Kräfte der globalisierten Ökonomie - ist gestaltende Politik so gefragt wie nie.

 Die Globalisierung ist nicht »gut« oder »schlecht« - sie ist schlicht und ergreifend da. Die Globalisierung hat die Spielräume der Nationalstaaten erheblich eingeschränkt - aber sie hat Politik nicht ausgehebelt.

 Die Globalisierung hat neue Gefahren heraufbeschworen - doch sie hat erstmals in der Geschichte auch die Chancen geschaffen, daß Menschen sich über alle Grenzen hinweg verständigen, ihre Probleme miteinander lösen, aber auch ihren Wohlstand miteinander teilen können.

 III.

 Ich habe eingangs den »Kampf um die Seele des 21. Jahrhunderts« erwähnt. Die Globalisierung hat mit Sicherheit keine »Seele« und auch keine Absicht. Wir sollten uns auch davor hüten, ihr so etwas zu unterstellen. Es ist Aufgabe der Völker, Staaten und Regierungen, der Globalisierung eine Seele zu geben. Wenn sie es nicht tun, dann übernehmen das rücksichtslose Geschäftemacher und fundamentalistische Ideologen.

 Wir müssen die Globalisierung »demokratisieren«. Und zwar nicht in dem Sinne, daß nun alle Völker unsere Form der parlamentarischen Demokratie übernehmen müssen. Globalisierung unter dem Zeichen eines westlichen »Werte-Imperialismus« wäre eben auch nur eine andere Art von Imperialismus. Demokratisierung der globalen Entwicklung heißt für mich, daß wir die Teilhabe der Menschen stärken. Es gibt dazu eine interessante Untersuchung des bekannten peruanischen Wirtschaftswissenschaftlers Hernando de Soto: Er behauptet, die Armen der Welt hätten insgesamt fünf Trillionen US-Dollar ihrer Verfügung, sie könnten sie aber nicht wirtschaftlich nutzen, weil dies »informelle« Gelder seien. Zugänge gerade der ärmsten Menschen zur Weltwirtschaft zu ermöglichen und zu legalisieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben politischer Globalisierung - liegt doch auf der Hand, welche wirtschaftlichen Chancen sich daraus für jedermann erschließen.

 Die Teilhabe der Menschen zu stärken heißt vor allem: ihren Zugang zu Bildung und Ausbildung zu stärken. Auf meine Initiative hin hat die Gemeinschaft der Industrienationen das bedeutendste Programm zur Entschuldung der ärmsten Staaten dieser Welt beschlossen. Das war dringend nötig - aber auf Dauer werden wir den überschuldeten Nationen nur helfen können, wenn wir damit Anreize zur Selbsthilfe verbinden: zuallererst den Anreiz, Kinder in die Schulen zu schicken. Ausbildung schafft Wohlstand.

 Schließlich brauchen wir ein wirklich demokratisches Handels- und Finanzregime in der Welt. Es ist völlig berechtigt, wenn gerade die ökonomisch schwachen Länder eine ausgewogene Finanzarchitektur einklagen, weil eine Handvoll Devisenspekulanten oder Derivatenhändler noch immer ganze Volkswirtschaften an den Rand des Ruins bringen können.

 Andererseits ist der Hinweis mehr als berechtigt, daß die internationale Entwicklungszusammenarbeit sich stärker daran orientieren muß, ob Regierungen von schwächer entwickelten Ländern sich den Prinzipien des good governance verpflichtet fühlen und ob sie ein Klima schaffen, das zu Investitionen ermuntert.

 Und nicht minder berechtigt ist es, Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, die ihren Völkern gewährte Finanzleistungen nicht in Anspruch nehmen, weil daran Bedingungen für gerechtere und transparentere Verteilung der Gelder geknüpft sind. Von wenigen Ausnahmen - um die sich die internationale Gemeinschaft besonders kümmern muß - abgesehen, ist es nun einmal so, daß die ärmsten Länder der Welt auch diejenigen sind, die am »schlechtesten«, will heißen: am wenigsten überprüf- und abwählbar regiert werden.

 Die Staatengemeinschaft und die großen Finanzplätze haben nach dem 11. September eindrucksvoll bewiesen, daß koordiniertes Handeln zur Kontrolle von »terroristischen« Finanzströmen möglich ist - und gleichzeitig ökonomischer Schaden von den Volkswirtschaften abgewendet werden kann. Wenn Ungerechtigkeiten der Weltwirtschaft auf Dauer eine ebenso große Gefahr produzieren könnten, wie ein Osama bin Laden und seine Terroristen sie heute schon darstellen, dann sollte es doch möglich sein, eine solche Finanzkooperation für Entwicklung, Wohlstand, und mithin: Krisenprävention, zu Stande zu bringen.

 Nur zur Erinnerung: Der Kampf gegen den Terrorismus kostet allein die Vereinigten Staaten von Amerika pro Monat eine Milliarde Dollar. Diese Ausgaben sind ohne jeden Zweifel angebracht. Aber mit derselben Summe, zwölf Milliarden Dollar pro Jahr, ließen sich erfolgreiche Programme zur Einschulung von Kindern, zur Prävention von Aids, Malaria und anderen bedrohlichen Epidemien und zur Wasser- und Energieversorgung der Menschheit in den ärmeren Regionen finanzieren. In Zukunft könnte womöglich der Satz gelten: Ein Euro für die Gerechtigkeit erspart zehn Euro für den Krieg. Und das gälte ausdrücklich nicht als Anforderung an die Steuerzahler, sondern vor allem an die Adresse all derer, die auf internationalen Märkten gute Geschäfte machen und schon deswegen an internationaler Stabilität interessiert sein müssen.

 Denn richtig ist: Die Globalisierung der Märkte und Wirtschaftsbeziehungen eröffnet allen an diesem System Beteiligten enorme Chancen. Handel ist Hilfe. Aber Handel braucht Sicherheit. Und globale Sicherheit ist auf Dauer nur zu erreichen durch globale Entwicklung und ein globales System von Rechten.

 Demokratisierung der Globalisierung heißt für mich deshalb vor allem eine Globalisierung der Rechtssicherheit. Wer Handel treibt oder Investitionen tätigt, muß sicher sein vor willkürlichen Besteuerungen oder Konfiszierungen. Aber: Wenn man das will, muß man auch Sicherheit geben und fordern. Verbot von Kinderarbeit, Gewerkschaftsfreiheit und Umweltstandards können und müssen gerade in der Globalisierung endlich weltweit durchgesetzt werden. Auf beides sind nationale Regierungen, aber auch internationale Organisationen zu verpflichten.

 IV.

 Vereinte Nationen, Welthandelsorganisation und Europäische Union sind die Organismen, die uns für die Gestaltung der Globalisierung zur Verfügung stehen. G 8, Weltbank und Internationaler Währungsfonds kommen hinzu. Keine dieser Organisationen ist in irgendeiner Hinsicht perfekt.

 Aber nur, wenn wir diese Zusammenschlüsse inhaltlich stärken, werden wir die Chancen der Globalisierung nutzen können.

 Gerade wir Europäer könnten dazu einiges beitragen. Die Geschichte Europas in den vergangenen fünf Jahrzehnten ist eine einmalige Erfolgsgeschichte. Ausgehend von der Kohle- und Stahlgemeinschaft 1951 und dann über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und von Euratom 1958 sind immer mehr Länder Europas über den freien Austausch von Gütern, von Kapital und Dienstleistungen integriert worden.

 Dieser Prozeß hat schließlich zur Herstellung des größten gemeinsamen Marktes der Welt und zur Einführung der gemeinsamen Währung geführt. Der Ungeist des Nationalismus, der vom Dreißigjährigen Krieg bis zum unsagbaren Verbrechen des Holocaust so großes Unheil über den Kontinent gebracht hat, ist vertrieben worden: durch ein dichtes Netz von Handelsbeziehungen, Direktinvestitionen und Transaktionen - vor allem aber: durch Kennenlernen, Kontakte und Kooperationen der Menschen untereinander.

 Europa zeichnet weit mehr aus als wirtschaftliche Stärke, Leistungsfähigkeit, Erfindergeist und Arbeitsfleiß. Europa, das ja nie geographisch, sondern immer politisch definiert war, steht für eine ganz spezifische Kultur und Lebensform. In Europa hat sich ein ganz eigenes und einzigartiges Zivilisations- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt, das auf den Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und auf Teilhabe als Triebkraft der Entwicklung setzt.

 Diese Gesellschaftsethik unterscheidet sich deutlich vom amerikanischen oder dem südostasiatischen Modell. Nur Europa steht für den wirtschaftlichen, den sozialen, den kulturellen und den ökologischen Ausgleich. Der Gedanke der Teilhabe, der Teilhabe am Haben und Sagen in der Gesellschaft, ist genuin europäisch.

 Die Kombination aus materieller Lebensqualität, aus demokratischer Partizipation, aus sozialer Absicherung und Chancen zur Bildung als Voraussetzung für persönliche Entfaltung ist in dieser Form nur in Europa zu finden.

 Europa, das so mühevoll aus einer blutigen Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und Zukunft gefunden hat, ist eine echte Wertegemeinschaft geworden. Und dieses europäische Modell hat sich bewährt. Es ist ein Modell, das auch in Zeiten der Globalisierung beste Entwicklungschancen bietet.

 Niemand in der Welt soll oder muß Europa nachahmen. Aber unsere Erfahrungen bei der Integration einstmals schlimm verfeindeter Völker, auf dem langen Weg von der Aussöhnung zur Euphorie - wie wir sie zum Beispiel bei den spontanen Feiern zur Einführung der gemeinsamen europäischen Währung beobachten konnten -, sollten wir anderen Regionen in unserer einen Welt anbieten. Und dabei auch dieses: daß sich die europäischen Gesellschaften nicht mit schreienden Einkommensgegensätzen und sozialer Ausgrenzung abfinden, wie sie in Afrika, Asien und Amerika offenbar üblich sind.

 V.

 Globalisierung zu gestalten, das heißt zunächst: Globalisierung zurückzuführen auf die Politik. Globale Gerechtigkeit ist zu einer Überlebensfrage geworden - da hilft kein neoliberales Vertrauen auf »die Märkte«. Im Gegenteil: Unkontrollierte Märkte haben die Globalisierung zu einem Marktplatz der Ängste gemacht.

 Wer globale Sicherheit will, der braucht eine Agenda für globale Gerechtigkeit. Der »Dialog der Kulturen« ist das eine, wirkliche Integration ist ein zweites. Die Förderung von Menschen, ihren Möglichkeiten und ihren Fähigkeiten, aber auch die Forderung an diese Menschen, ihr Leben selbst und mit Rücksicht auf das Gemeinwohl verantwortlich zu gestalten, ist das dritte und wichtigste.

 Wir brauchen keine Politik, die ausgrenzt oder so tut, als gäbe es ringsum keine Globalisierung. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben Deutsche die häßlichste Mauer der Welt eingedrückt - weil sie in Freiheit leben und an den Früchten ihrer Arbeit teilhaben wollten. Diese Freiheit basiert nicht auf Blut und Boden. Wer Globalisierung gestalten will, darf zum Beispiel eine geregelte und steuerte Zuwanderung nicht verhindern. Und wer Zuwanderung will, sollte nicht naiv oder romantisch sein: Das Elend der Welt wird nicht dadurch gelindert, daß viele Menschen nach Deutschland kommen.

 Gerade wir Deutschen haben große Möglichkeiten: Als »Exportnation« können wir von der Globalisierung eigentlich nur profitieren.

 Als gewichtiges Mitglied der Europäischen Union und der Staatengemeinschaft können wir darauf dringen, daß jene »Agenda für globale Sicherheit und Gerechtigkeit« umgesetzt wird, die ich vor einigen Monaten in New York vorgeschlagen habe.

 Als Gesellschaft allerdings müssen wir uns entscheiden: Ob wir den Weg der Modernisierung und Gerechtigkeit, der Weltoffenheit und Teilhabe weitergehen wollen - oder ob wir Reformen im Inneren und eine verlässlichen Politik für globale Gerechtigkeit zugunsten einer regionalen Wirtschafts- und einer verschlossenen Gesellschaftspolitik opfern, die am Ende keinen einzigen Arbeitsplatz schafft, aber Haß auf alle »anderen« - die Fremden, die Zuwanderer, die anderen Völker - schürt.

 Ein modernes, weltoffenes Deutschland muß sich vor der Globalisierung nicht fürchten. Jeder zweite Arbeitsplatz in der Bundesrepublik hängt inzwischen an irgendeinem Angelhaken der Globalisierung. In der Globalisierung gibt es weder »Gute« noch »Böse«. Es gibt nur gutes oder schlechtes Regieren.

 Es wäre dumm, wenn gerade wir den besten Köpfen aus aller Welt das Signal gäben, daß sie bei uns eigentlich »nicht erwünscht« sind. Es wäre gefährlich, wenn wir international nicht mehr mitreden könnten, weil wir im Inneren auf nationalistisches Gedankengut zurückfallen. Und geschichtsvergessen, ja geradezu selbstmörderisch wäre es, das vor uns liegende Zeitalter der Chancen einzutauschen gegen ein weiteres, sinnloses »Jahrhundert der Ideologien«.

 Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Mai-Ausgabe von „Die Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte“ http://www.frankfurter-hefte.de/